WAS MACHT FINNLAND ANDERS...

23.10.2015 10:38

Ein sensationeller Artikel über das "Musterland" Finnland ist im "Kurier" eerschienen.

Nachdem alle gelebten Inhalte des finnischen Bildungssystems so tief in die Denkweise von uns DaltonpädagogInnen treffen, möchten wir euch die Stellungnahmen von Pasi Sahlberg,  einem der führenden Wissenschaftler Finnlands, nicht vorenthalten. Es ist ganz einfach der Zugang zum Bildungsbegriff moderner Bauart so ganz anders als in unserem verkrusteten österreichischen System, dass man mit diesem Artikel vielleicht auch bei unseren heimischen Bildungspolitikern ein Nachdenken erzeugen könnt.... - Falls sie so einen Artikel auch lesen....

 

Gelesen im „Kurier“ – Hoch Interessantes

Pasi Sahlberg ist ein finnischer Bildungsexperte, der Finnlands Schulsystem international präsentiert.

 

Bildungsexperte: "Die Finnen machen es anders"

Pisa ist nicht ausschlaggebend - wichtig ist, dass Schulen am neuesten Stand sind, sagt Pasi Sahlberg.

 

Von Finnland lernen heißt siegen lernen. In der Bildungspolitik gilt dieser Satz schon lange als Erfolgsrezept. Das findet auch der finnische Bildungsexperte Pasi Sahlberg. Im KURIER-Interview erklärt der Bestseller-Autor ("Finnish Lessons: What Can the World Learn About Educational Change in Finland?"), warum Finnland seinen nationalen Bildungsrahmen reformiert und die Pisa-Studien dabei überhaupt keine Rolle spielen.

KURIER: Herr Sahlberg, die finnische Regierung hat für 2016 einen neuen nationalen Bildungsrahmen erlassen. Was bedeutet das?

Pasi Sahlberg: Das bedeutet, Kommunen und Schulen werden den neuen Bildungsrahmen dazu verwenden, um ihre Lehrpläne zu überarbeiten. Es ist aber keine radikale Veränderung geplant. Die Reform soll den Schulen, die bereit sind, sich weiter zu entwickeln, mehr Möglichkeiten bieten. Es ist ihnen ja selbst überlassen, ihren eigenen, individuellen Lehrplan zu entwerfen.

Finnland ist doch eine Hochburg in Sachen Bildung. In internationalen Rankings heimst das Land immer wieder Erfolge ein. Warum also die Reform?

Ganz einfach: Um auf dem neuesten Stand zu sein. Alle zehn Jahre überarbeitet Finnland seinen Bildungsrahmen. Die finnische Gesellschaft, Europa und die Welt verändern sich. Und die finnischen Schulen müssen hier einfach mitziehen. Deswegen wurde die Reform ja bereits vor fünf Jahren beschlossen.

Das heißt, die schlechten Pisa-Ergebnisse von 2012 waren für die Reform nicht ausschlaggebend.

Wenn Finnland sein Bildungssystem ändert, nur um besser bei den Pisa-Tests abzuschneiden, würde man das so handhaben wie es auch alle anderen Staaten handhaben: Noch mehr Zeit und Geld in Mathematik, Lesen und Naturwissenschaften investieren. Aber die Finnen machen es anders: Zeit, die sonst für den fächerzentrierten Unterricht gedacht ist, wird nun umverteilt. Was heißt das? Die traditionellen Fächer sollen zu einem Ganzen integriert werden. Statt Mathematik, Geschichte und Co. werden nun Themen wie "Europäische Union" gelehrt. Die Finnen nennen es „Phänomen“-Unterricht (siehe unten).

Ist der "Phänomen"-Unterricht ein Erfolgsmodell?

Es gibt nicht das Bildungsmodell. Was für einige Länder funktioniert, funktioniert für andere nicht. Finnland hat gut ausgebildete Lehrer und kompetente Schuldirektoren, die die Veränderung in die Wege leiten werden. Deswegen wagen die Finnen diese bildungspolitische Innovation. Ich bin mir aber nicht sicher, ob das für andere Länder wie Österreich das Richtige wäre.

Was ist denn das finnische Geheimnis?

Ich glaube, das finnische Modell ist unter den weltweiten Schulsystemen ein interessanter Ausreißer. Die Bildung in Finnland muss sich auf 100 Prozent öffentlicher Gelder verlassen, es gibt nur sehr wenige Privatschulen, keine standardisierten Tests und keine Überprüfungen durch Inspektoren. Dafür haben Lehrer ein hohes Ansehen in Finnland. Die Anzahl junger Menschen, die den Lehrberuf ergreifen wollen, ist enorm. Und was noch wichtig ist, Finnlands Schulen sind kreativ und lassen Experimente zu.

Aus dem Archiv "Pisa: So g'winnen die Finnen"

Als Experiment wird auch der "Phänomen"-Unterricht bezeichnet, oder?

Ja, es ist ein Experiment, das sich in der Praxis etablieren wird. Das themenzentrierte Lernen wird es Schulen endlich erlauben, was ich schon seit langer Zeit vertrete: Weniger in traditionellen Fächern denken, dafür ein personalisierter, schülerorientierter Unterricht. Dieser Ansatz wird den Lehrern dabei helfen, über das Lernen und Lehren an sich nachzudenken. Und beim Planen und Umsetzen des "Phänomen"-Unterrichts müssen Schüler integriert werden. Das verlangt der nationale Bildungsrahmen 2016 - eine tolle Initiative.

Was können andere Länder von der finnischen Schulpolitik lernen? 

Ich glaube, dass wir alle voneinander lernen können. In Finnland vertraut die Bevölkerung dem Bildungssystem, die Schulleitung ist modern, die Schulen haben sehr viel Autonomie und der Lehrberuf ist sehr attraktiv.

Gibt es keine Tücken im finnischen Schulsystem?

Natürlich gibt es welche. Wie jedes Schulsystem hat auch das finnische seine Probleme. Aber diese sind bekannt und die Finnen versuchen herauszufinden, wie man ihnen am besten begegnen kann.

Zur Person:

Pasi Sahlberg ist am 26. Oktober 1959 in Finnland geboren. Er studierte Mathematik und promovierte 1996 an der Jyväskylä Universität. Er war unter anderem als Professor an der am Institut Bildungswissenschaften der Universität Helsinki und als Berater im finnischen Bildungsministerium tätig. In seinen wissenschaftlichen Publikationen beschäftigt sich der Finne mit Bildungssystemen und -reformen auf der ganzen Welt. Als Autor ist er vor allem für sein Buch "Finnish Lessons: What Can the World Learn About Educational Change in Finland?" bekannt. Heute arbeitet Sahlberg als Gastprofessor an der Harvard Graduate School of Education in Cambridge.

MYTHOS PISA

Sind die Finnen doch nicht so ausgezeichnet?

Viele Faktoren machten die Schüler Skandinaviens top. Warum sie jetzt nur noch "gut" sind.

Finnland reformiert Bildungsystem

Die Skandinavier verabschieden sich vom traditionellen Fächerunterricht.

Die Finnen sind bekannt für ihr erfolgreiches Schulsystem. Top-Platzierungen in internationalen Bildungsrankings sind keine Seltenheit. Zudem statten viele Politiker dem skandinavischen Land einen Besuch ab, um einen Einblick in das Erfolgsmodell zu bekommen. Umso erstaunlicher, dass Finnland nun seine Schulpolitik reformiert. Nach einem Bericht der britischen Tageszeitung The Independent wird der fächerzentrierte Unterricht, der auch an Österreichs Schulen praktiziert wird, durch ein themenzentriertes Modell ersetzt.

Finnen schaffen Schreibschrift ab

In den Oberstufenschulen in der finnischen Hauptstadt Helsinki startete der "Phänomen"-Unterricht, so nennen es die Finnen, bereits vor zwei Jahren. Statt Mathematik, Geografie oder Geschichte werden Themen wie "Europäische Union" und "Gastronomie" unterrichtet. Ohnehin ist der Begriff „unterrichtet“ falsch gewählt. Denn auch der traditionelle Frontalunterricht ist aus den Klassenzimmern verschwunden. Schüler lösen in kleinen Gruppen Problemstellungen, um so ihre Kommunikationsfähigkeiten zu verbessern.

Einfaches Beispiel am Thema "Europäische Union": 
Im traditionellen Englisch-Unterricht hängt eine Europakarte an der Wand. Die Schüler müssen Wetterbedingungen mit den einzelnen EU-Migliedsstaaten kombinieren. Zum Beispiel ist es in Finnland sonnig und in Dänemark regnet es. So sollen Englisch und Geografie miteinander verbunden werden.

"Sie wollen nicht mehr zurück"

Pasi Silander, Entwicklungsmanager der finnischen Hauptstadt Helsinki, begrüßt den schrittweisen Abbau des traditionellen Fächerunterrichts. Das wäre bloß ein Relikt aus dem frühen 20. Jahrhundert. Man muss innovativ sein, um den Anforderungen des 21. Jahrhundert gerecht zu werden.

Für den "Phänomen"-Unterricht wurden bereits über 70 Prozent der Oberstufenlehrer in Helsinki ausgebildet. Viele Lehrer und Direktoren hatten sich anfangs dagegen gesträubt, weil sie durch die Reform ihr Fachgebiet aufgeben mussten. „Es war schwierig, das Lehrpersonal zum ersten Schritt zu bringen. Aber jetzt wollen sie gar nicht mehr ins alte System zurück“, erklärt Silander.

Landesweit bis 2020

Bis 2020 soll in allen Schulen der Themenunterricht praktiziert werden. Bis dahin sind die Lehrer und Direktoren angehalten, mindestens einmal pro Jahr das Phänomen-Prinzip für ein paar Wochen durchzuführen. In Helsinki wird die Einführung der neuen Unterrichtsmethode etwas schneller vorangetrieben - hier soll zweimal im Jahr danach unterrichtet werden.

In der hiesigen Bildungspolitik müssen die Österreicher noch auf die Reform warten. Bei der Regierungsklausur in Krems Ende März wurde zwar über Schulautonomie und Bund-Länder-Kompetenzen debattiert, ein Ergebnis soll aber erst am 17. November 2015 vorliegen. Ob man sich dem finnischen Reformeifer anschließen wird, darf aber bezweifelt werden.

Baustelle Schule in Österreich

FINNLANDS "PISA-SCHOCK"

Der Musterschüler schreibt einen "Fleck"

Warum die Finnen ihr Bildungssystem reformieren, liegt nicht an den Ergebnissen der Pisa-Studie (Programme for International Student Assessment) aus dem Jahr 2012, sagt Pasi Sahlberg (Interview oben). Trotzdem war es für das Land, das als Pisa-Musterschüler gilt und unzählige Male erklären musste, warum das finnische Konzept so erfolgreich ist, ein Schlag in die Magengrube.

Bei der von der OECD initiierten internationalen Studie lag man 2009 noch an dritter Stelle, drei Jahre später rutschte die Skandinavier um neun Plätze auf Rang 12 ab. In Mathematik, Lesen und Naturwissenschaft waren Finnlands Schüler schlechter als 2009.

Talib: Auf Lorbeeren ausgeruht

Oppositionspolitiker und Medien forderten angesichts der Pisa-Ergebnisse das Schulsystem auf den Kopf zu stellen. Die Regierung ließ sich jedoch auf keine Spielereien ein und machte sich sofort ans Werk, die Ursachen für das schlechte Abschneiden zu finden. Der drastische Sparkurs der vergangenen Jahre soll am Desaster schuld gewesen sein.

Die Bildungswissenschaftlerin Mirja Talib von der Universität Helsinki hat jedoch eine andere Begründung ausfindig gemacht: Nach den vielen Erfolgen hat sich eine Grundzufriedenheit in Finnland eingestellt. Man habe sich einfach zu lange auf den Lorbeeren ausgeruht, erklärte sie gegenüber ZeitOnline.

Finnland hat der Bildung nun wieder mehr Aufmerksamkeit geschenkt. Ob sich der Aufwand gelohnt hat, wird man bei den Pisa-Ergebnissen 2015 sehen - sofern man der Studie, die zwar Defizite im nationalen Schulsystem aufzeigt, aber nie erklärt, was falsch läuft, einen hohen Stellenwert beimisst.